Texte zum Thema Deutsche Einheit

 

Deutsche Einheit
Betrachtungen aus Berlin

Katalogtext von Galeristin Ingrid Raab zur Ausstellung Baumgärtel/Klemm “Deutsche Einheit” im Museum Schweinfurt

Zu den ergreifensten Werken moderner Malerei, die sich auf das Zeitgeschehen beziehen, gehören die Gemälde „Die Erschießung des Kaiser Maximilian“ des französischen Malers Edouard Manet (Abb. 1). Wie in einem Film läuft das Drama vor den Augen des Betrachters ab. Die Generäle wurden bereits hingerichtet, noch steht dem Betrachter der Vollstrecker Kaiser Maximilians gegenüber, auch er wird sich gleich umdrehen, um befehlsgemäß und unbeteiligt die Exekution auszuführen. Wir kennen den Ausgang und können das Geschehen zu Ende denken. Aber angesichts der uns noch gegenüberstehenden Figur des Vollstreckers schießen andere Gedanken durch den Kopf: Kann man das Unglück abwenden? Muss es so weit kommen? Was geschieht hier eigentlich? Manets monatelanges Ringen um die Wahrheit, die politischen Hintergründe des Dramas, die Ohnmacht, das Unglück nicht abwenden zu können, wird lebendig. Längst liegen die geschichtlichen Fakten zur Erschießung Kaiser Maximilians vor, dennoch steht man vor keinem Historienbild, wenn man sich das Werk ansieht. Vielmehr ist es ein Dokument menschlicher Verstrickungen, die beim Betrachter Mitgefühl, Stellungnahme, Bedauern – Katharsis hervorrufen. Während das Werk ein Geschichte gewordenes Drama abbildet, öffnet sich vor dem inneren Auge des Betrachters ein Abgrund, das Versagen einer Gesellschaft wird sichtbar, die es nicht verstanden hat, das Drama zu verhindern, während es gleichzeitig vorstellbar ist, dass das möglich gewesen wäre. Ohne den Zeigefinger zu erheben, ohne politische Stellungnahme ist der Blick auf die Welt, den das Werk gewährt, eine Anklage an die eigene Zeit, die derartige Monstrositäten zulässt. Dieser Blick rührt den Menschen und befreit ihn von Anteilslosigkeit. Es bleibt ein Grundprinzip menschlicher Haltung, diese Augenblicke zu suchen.

Manet stellt die Herrschaft des Ewiggestrigen in Frage und beschreibt den erschütternden Moment, in dem der Mensch vor dem unglaublichen Geschehen kapituliert. Hamlet nennt diesen Geisteszustand in einer menschlichen Ausnahmesituation im dritten Akt des Dramas „mortal coil“. Wo wir auf lebensbedrohende Herausforderungen treffen, spielt Kunst die Rolle des „sterblichen Wirrwarrs“. Wo Angst und Schrecken regieren, regt Kunst zu Nachdenklichkeit und Betroffenheit an. Anstatt sich auf die Seite der Institutionen zu stellen, stellt die Kunst sich mitten in der Krise in eine Welt voller Unruhe und Unsicherheit. In der Vorwendezeit gibt es viele Beispiele in der DDR, die „mortal coil“ thematisieren, wie die Ausstellung Via Lewandowskis im Sommer 1989. Er stellt vierzig Kuhhufe in einen leeren Raum - mit Richtung auf den Ausgang (jede dumme Kuh würde den Ausgang aus der DDR suchen). Die gruselige Szene erschreckt die Offiziellen, sie wagen es jedoch nicht, die Ausstellung wegen der offensichtlich subversiven Ideen zu schließen, sondern verbieten die Schau aus hygienischen Gründen. Ein Veterinär wird offiziell beauftragt, gesundheitsschädliche Zustände festzustellen. Woraufhin der Künstler die Ausstellung mit starken Desinfektionsmitteln besprüht, um nach getaner Tat seinerseits den Veterinär zu bemühen, der nun hygienisch einwandfreie Zustände feststellen kann. Die Ausstellung darf wieder öffnen. „Mortal coil“ lässt in den darauf folgenden Monaten viele Künstler der DDR auf Demonstrationen zu Wortführern der Wende werden. Ihre unerschrockenen Reden, ihr entschiedenes Handeln ist angesichts der erdrückenden Macht der Ewiggestrigen nur dadurch zu erklären, dass sie begriffen, wie erschüttert auch „das Volk“ von reaktionären Einschüchterungsversuchen war.

Die hohe, hektische Stimme Walter Ulbrichts bleibt im Ohr: „niemand hat vor, eine Mauer zu bauen“, während schon Wochen später die unvergessenen Bilder getrennter und flüchtender Menschen an der Mauer bekannt werden (Abb. 2). Unendlich lange, bittere Jahre vergehen, in denen Honecker verkündet „weder Ochs noch Esel in ihrem Lauf halten den Sozialismus auf“; Michail Gorbatschows Worte „wer zu spät kommt, den bestraft das Leben,“ verhallen scheinbar ungehört, oder doch nicht: denn die Stimmen „wir sind das Volk“ werden immer lauter und die Witze über das Zentralkomitee immer deutlicher.

Am 9.11.1989 um 18:57 Uhr liest Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz im Fernsehen eine vom Zentralkomitee beschlossene neue Reiseregelung folgenden Wortlauts ab: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VP der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen“. Bestes Amtsdeutsch, das wegen der schwammigen Form viele Bürger der DDR neugierig macht, den Tatbestand noch am selben Abend zu überprüfen (Abb. 3). Spätestens seit der Frage des italienischen Korrespondenten Riccardo Ehrmann der Agentur ANSA, wann die neue Regelung in Kraft trete, womit er dem Amtsdeutsch eine konkrete Aussage abverlangt und Schabowski antwortet: „Das tritt nach meiner Kenntnis - ist das sofort, unverzüglich“ gibt es kein Halten mehr. Stunden später sind Grenzübergänge gestürmt, West-Berlin voller Trabis und bei winterlichen Temperaturen verwandelt sich der nächtliche Ku'damm in ein großes Volksfest. (Abb. 4)
Wie in der westdeutschen Nachkriegszeit scheint sich eine neue deutsche Erfolgsgeschichte anzubahnen. Bundeskanzler Helmut Kohl beschwört „blühende Landschaften“. Im Glückstaumel über die für alle wieder gefundene Freiheit, bei der intensiven Verhandlungspolitik für die Friedensverträge und im nicht unerheblichen Kampf der alten DDR-Bewohner um die Bewältigung des neuen Lebens kommt es noch nicht zur Auseinandersetzung über zeitgemäße Grundlagen der neuen Gesellschaft. Schließlich war das Hauptziel der Freiheitsbewegung durch die Öffnung der Grenzen erreicht. Aus „wir sind das Volk“ wird „wir sind ein Volk“, das ist für die eigene Wahrnehmung bestimmt und noch kein Ausdruck einer auch nach außen bekundeten „Deutschen Einheit“. Von ihr gibt es überschwängliche Vorstellungen und eher nachdenkliche, in eine ungewisse Zukunft gerichtete. In Berlin entsteht im Jahr 1990 das Bild „Selbstportrait und Mauer“ von Markus Lüpertz, eine malerische Auseinandersetzung mit dem, was am 9.11.1989 zu Ende geht und gleichzeitig der Versuch, das Ereignis visionär zu sehen, ein Ansatz, den das Werk Lüpertz' auch sonst kennzeichnet (Abb. 5).

Der Freiheitsbegriff hat sich aus Westberliner Sicht auf einen Schlag gedreht: Westberlin als der Ort, an dem Freiheit sich innerhalb, nicht außerhalb der Grenzen manifestiert, existiert nicht mehr. Er ist aber weiterhin tragfähig als metaphysisch zu deutendes Phänomen, wenn man wie Markus Lüpertz an grenzenlose Freiheit glaubt, der allenfalls künstlerisch Regeln gesetzt sind, worauf die symbolischen Elemente im Bild hinweisen. Das Gemälde appelliert, ganz im Geist der Westberliner Erfahrung, an die Kraft der Freiheit zuallererst als individuelle Möglichkeit. Es beschwört künstlerische Ideen herbei, ist nicht nur in den Farben, sondern auch in der Symbolik nachdenklich und bedenkt so die Chancen für die Zukunft auf der Basis freiheitlicher und humanistischer Ideale. Optimismus oder Sicherheit strahlt das Bild nicht aus, es portraitiert den Don Carlos, den Gustav Gründgens vor versammelten Nazigrößen im Schillertheater in Berlin gab: „Sire, geben Sie Gedanken!“. Diese Richtung verfolgt Lüpertz weiter, als er für das Bundeskanzleramt die „Philosophie“ zum Leitmotiv vorschlägt. Seine Skulptur und die in symbolischen Farben ausgestalteten Räume stehen bewusst für eine Gesellschaft der Ideen und Tugenden - eine Tradition, die seit der deutschen Romantik zwar nicht glücklich verlief, aber für das Land hätte zukunftsweisend werden können.
Deutschland sagt man damals nur zögerlich zu seinem Land. Offiziell gibt es die DDR oder auch „DDR“ oder SBZ, in der Schreibweise all derer, die die DDR als Staat nicht offiziell anerkennen; es gibt die BRD oder Bundesrepublik Deutschland. 1990 malt Rainer Fetting das Bild „Mauer und Buchenwald - Rumpelstilzchen“ (Abb. 6). Hatte Rumpelstilzchen nicht seine Existenz damit verbunden, dass man seinen Namen nicht kannte? „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“ Wie das „Kind“ denn heißen solle, bleibt zunächst offen, wenn auch kaum einer mehr glaubt, dass die Nennung des Namen dazu führen könne, dass die Nation sich erneut zerrisse. Den Osten, der schon im nächsten Jahr als „neue Bundesländer“ Verträge mit den „alten Bundesländern“ abschließt, unter BRD zu vereinnahmen, hätte den Respekt vor der Freiheitsbewegung vieler Menschen geschmälert. Die Staatsfrage ist allzu fragil, um sie mit Selbstbewusstsein zu stellen, sie ist auch neu und ungewohnt und das soll noch einige Zeit so bleiben.

Blicken wir etwa zehn Jahre später auf das Jahr 2000, als ein Kunstwerk Hans Haackes für den Deutschen Bundestag Aufsehen erregt. Haacke will einen Trog aufstellen, der Erde aus den verschiedenen Bundesländern aufnehmen soll und diesen mit den Lettern „DER BEVÖLKERUNG“ in Frakturschrift versehen. Er reagiert damit auf die Giebelinschrift des Reichstags - dort steht in wilhelminischer Frakturschrift und in Versalien: „DEM DEUTSCHEN VOLKE“. Haackes Kunstwerk führt - ähnlich wie bereits Christos „wrapped Reichstag“ - zu veränderten Gedankenstrukturen. Im Gegensatz zu Christo, dessen ästhetische Verhüllung in Berlin mit fröhlicher Begeisterung gefeiert wird, löst Haacke heftige, von ihm gewollte Reaktionen aus. Mittel dazu ist das Stilelement der Frakturschrift mit ihrer wechselvollen Vergangenheit: in dieser Schrift gestaltete Albrecht Dürer eines der größten Buchkunstwerke der Welt, das Gebetsbuch Kaiser Maximilians; von Adolf Hitler wurde der Gebrauch der Fraktur verboten; nach dem zweiten Weltkrieg fiel sie fast dem Vergessen anheim. Sieht man heute auf die tägliche webcam-Aufnahme, die zum Kunstwerk Haackes gehört und unter www.derbevoelkerung.de für jeden sichtbar ist, entdeckt man, dass der Schriftzug inzwischen teilweise von Pflanzen überwuchert ist. Man mag das als Symbol für die versöhnende Zeit sehen, aber auch als Ergebnis notwendiger, bisher nicht geführter Auseinandersetzungen zum deutschen Thema.

Durch künstlerisch so unterschiedliche Gedankenansätze wird die deutsche Einheit zu einem vielschichtigen Thema und damit zur idealen Ausgangslage für die Zusammenarbeit von Thomas Baumgärtel und Harald Klemm. Beide Künstler arbeiten dabei aus jeweils anderer Sicht. Harald Klemm macht die Familiengeschichte zum Thema: „Genauer gesagt, es ist mein Vater, der in Werneuchen bei Berlin aufwächst und dort seine Kindheit und Jugend, die meiste Zeit auf dem dortigen Militärflughafen, verbringt; bis er im September 1951 an seinem 18. Geburtstag von dort fliehen muss, weil er beim Bierholen für seine Geburtstagsfeier in der Dorfkneipe einen angetrunkenen russischen Soldaten entwaffnet. Schnell wird ihm zugetragen, dass die russische Militärpolizei nach ihm sucht und man legt ihm nahe, erst einmal bei seiner Großmutter in Westberlin unterzukommen. Sein Bruder wird 2 Tage lang verhört, gibt aber den Aufenthaltsort nicht preis. Mein Vater ist danach 17 Jahre nicht nach Hause gekommen und lebte schon lange in Westdeutschland, wo er seine Arbeit und seine Frau fand, bevor er das erste Mal seinen Bruder wieder sah. Er erlebte nicht, dass sein Vater 2 Jahre nach seiner Flucht in derselben Kneipe von einem betrunkenen russischen Soldaten erschossen wurde“. (Harald Klemm, 10.7.2006)
„Mortal coil“ und damit ein Thema für das Malen, aber auch für die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, ob Maler, Komponisten oder Dramaturgen. Für Harald Klemm spielt der New Yorker Maler Theo Lipfert hier in den ersten Jahren eine zentrale Rolle, der ihn vielleicht auch durch sein forschendes Herangehen an Themen fasziniert. Ausgangspunkt der Projekte ist umfangreiches, teils in Archiven gesuchtes, in Videos gefundenes Material, das sich im Gebrauch für beide Künstler oft zu einer überraschenden Form der Übereinstimmung entwickelt. Danach ist die Zusammenarbeit mit Thomas Baumgärtel 1998 ein natürlicher Schritt: das Projekt „Wen.de - Zehn Jahre Deutsche Einheit“ nimmt seinen Anfang.

Wie Harald Klemm ist auch Thomas Baumgärtel in der Nachkriegszeit im Rheinland aufgewachsen, das aus der Aussöhnung mit dem Nachbarland Frankreich eine Erfolgsgeschichte gemacht hat. Die Erfahrung ist hintergründig. Sie beruht auf vielfältigen, oft alltäglichen, häufig denkwürdigen Ereignissen, die nicht isoliert geschahen, heute nicht mehr in jeder einzelnen Phase kritisch oder abwägend nachvollzogen werden müssen, sondern längst ein Lebensgefühl erzeugt haben, das mit dem Ausdruck rheinländischer Frohsinn gar nicht schlecht beschrieben ist. Dahinter verstecken sich schlagfertiger Humor, geistige Unabhängigkeit, kulturelle Neugier, großer Anteilnahme am Schicksal anderer und ein schlagfertiger Umgang mit politischer Macht. Erste Arbeiten Baumgärtels zur Deutschen Einheit entstehen Mitte der 80er Jahre, vorzugsweise Bananen-Bildnisse von Helmut Kohl (Abb. 7) oder die Deutschlandfahne als Symbol unserer „Bananenrepublik“. Die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern führt er bis heute in der Gruppe „Könige der Herzen“ mit Thitz und M.S. Bastian fort. Seine Aktionen als Bananensprayer sind Legende. Als er dann 1994/95 den Bananenpointillismus erfindet, wird er zum geeigneten Partner für das Gemeinschaftsprojekt „deutsche Einheit“ und für eine aufregende künstlerische Zusammenarbeit.
Die eigene Vorgeschichte macht den Fall der Mauer in Deutschland für Baumgärtel und Klemm zum künstlerischen Fest. Rosen, Bananen und Pinkfarben für das Brandenburger Tor, (Abb. 8) Freiheit auch für die Volksarmee sind keine vordergründigen Motive. Mit der historischen Last im Rücken - Helme und Kalaschnikows, das Brandenburger Tor bilden das Gerüst der Bilder - sind Rosen keine Selbstverständlichkeit. Es kann streng genommen an dieser Stelle weder Rosen noch Bananen geben, man muss sie erst einmal malen, erschaffen. Sichtbar wird der Vordergrund der Gemälde hintergründig, denn die Künstler fordern, ihre im Rheinland erworbenen Erfahrungen der Nachkriegszeit auf die neue, nun in allen deutschen Regionen Wirklichkeit gewordene Freiheit anzuwenden. Dabei bleibt das Geschichtsbewusstsein immer im Hinterkopf. Die Überwindung martialischer Auseinandersetzungen durch gemeinsame kulturelle Erfahrungen, so wie es bereits Courbet oder Proudon im 19. Jahrhundert beschworen haben, tragen das ihre zum Frohsinn bei, den nun spätere Generationen als Selbstverständlichkeit empfinden können.

Rosen für Deutschland - und warum nicht auch Bananen -, die in der zeitgenössischen Kunst seit Andy Warhol ebenbürtig für das Freiheitssymbol stehen. Selbst die Komposition der Werke ist auf Befreiung abgestellt; von der Volksarmee (Abb. 9), die nicht mehr das eigene Volk einsperrt, für das Brandenburger Tor, durch das man wieder als Fußgänger hindurchgehen kann, für das individuelle Glück, das von der Freiheit abhängt und nun allen widerfährt. Fragt sich nur, wie dieses Glück festzuhalten sei, wenn die Relikte im Hintergrund der Werke historische Fakten bleiben. Es liegt auf der Hand: mit Volksarmisten, Stasi, IM, Seilschaften müssen wir uns weiter beschäftigen. Sie mischen sich der Freude über die Freiheit bei, bleiben ein Teil des deutschen Schicksals und der 17 Millionen Menschen, die 1989 unter Hintanstellen ihrer eigenen Existenz für die Freiheit gestimmt haben, damit für eine freie Zukunft und letztendlich für die deutsche Einheit. Die Bilder in ihrer gemalten Vorder- und Hintergründigkeit lassen unendliche Gedankenräume entstehen, setzen Phantasie frei, sie enthüllen die für die Zukunft besten Ideen ihrer Zeit, wie es sich für gute Kunstwerke gehört.

Fast 15 Jahre nach dem Fall der Mauer treffen Baumgärtel und Klemm durch Vermittlung Julia Raabs auf Peter Oberneier aus Kladow (ehemals West-Berlin). Er ist Eigentümer eines eleganten Trabbi Coupe in hellblau, der ein Desiderat der Künstler darstellt - und nicht nur das Coupe, auch Karosserieteile, die sich dann - auf Hochglanz poliert - zum Zwickauer Altarbild nobilitieren lassen. Inzwischen ist der Trabbi fast aus dem Verkehrsbild verschwunden, aber wie der Käfer aus Wolfsburg hat er große Symbolkraft. Für Peter Oberneier steht fest, dass dieser Trabbi noch längst nicht alles Potential entfaltet hat - er überlässt ihn den beiden Rheinländern für neue Abenteuer, die ihn schon mit der Beschreibung des Vorhabens neugierig gemacht haben. Auf dem Dach Adolf Hitler, an den Türen Anne Frank, Helmut Kohl, Michail Gorbatschow dazu die romantischen Erinnerungen an die Tage nach der Öffnung der Mauer. Alles findet auf dem Prachtexemplar mit Schablonen und Farbe seinen Platz und ehe wir uns versehen, entstehen vor unseren Augen die Bilder, die wir Tage und Wochen nach der Wende gesehen haben.

Die Zeit seit der Wende haben viele genutzt, um wieder eine größere Heimat kennen zu lernen. Harald Klemm lernt die Heimat des Vaters kennen, so wie andere die alte Heimat seit Jahren wieder besuchen, wieder andere sich den Traum von Venedig erfüllen. Hatten wir „Deutschland“ 1989 nur zögerlich gedacht, ist es inzwischen wieder der Begriff für unsere Heimat geworden. Dass wir das dem Freiheitswillen von Deutschen und unseren Nachbarn zu verdanken haben, macht auch die Schattenseiten nicht vergessen, die von vielen noch schmerzhaft empfunden werden.

In vieler Hinsicht erscheinen Thomas Baumgärtels und Harald Klemms Werke zur deutschen Einheit visionär. Schon hier erscheint die Deutschlandfahne, die zur Fußballweltmeisterschaft mit den vielen Nationalfahnen der teilnehmenden Länder ganz Deutschland übersäht und das Ausland findet es selbstverständlich. (Abb. 10) Fügt man diesem selbstbewussten, fröhlichen Bild auch deutsche Namen hinzu, Beethoven, Dürer und Goethe, denkt man an die Tagebücher der Anne Frank, erscheinen vor dem geistigen Auge kulturelle Triumphe und nationale Katastrophen. Zur ungetrübten Freude gesellt sich das Drama, das in Kunstwerke gefasst mit der Grenzenlosigkeit der Einbildungskraft, mit der Moral spielt, wie man mit dem Feuer spielt. Kunst kennt das Böse, erschafft es, verhüllt es, verwischt Spuren, gibt auch nicht alles preis, wahrt das Geheimnis. Über Jahrhunderte hat Kunst den Weg gewählt, den menschlichen Konflikt, die Katastrophe vielschichtig darzustellen.

Bill Viola schreibt zum Gemälde „Verspottung Christi“ (ca. 1490 - 1500) von Hieronymus Bosch: „...man entdeckt, dass der emotionale Ausdruck all dieser Menschen sich bewegt, er hat sich schon bewegt, bevor du in dem Raum warst und wenn du gegangen bist, wird er sich immer noch bewegen. Es gibt keinen Schluss, kein Endresultat. Ein sich fortwährend wandelndes emotionales Schema, das in ausgedehnter Zeit über die Gesichtsfelder flackert, führt dazu, auch das eigene Entschlüsseln, Mutmaßen über Beziehungen der Akteure zueinander ständig zu ändern.“ (aus: encounters, Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung in der National Gallery in London, 2000). Das im Gemälde von Bosch dargestellte Drama der Verspottung Christi durch seine Henker ist menschlich kaum erträglich, das Nachdenken über die vielschichtigen, bildnerisch dargestellten Emotionen der Akteure ist jedoch nachvollziehbar, erzeugt Empathie, gibt angesichts der Gefahr auch Hoffnung auf Rettung.

Das Rettende in der Gefahr liegt in der von allen Menschen geteilten, gemeinsamen Kultur, die wir in glücklichen Zeiten mit unseren Nachbarn austauschen. Kultur, Kunst definieren und bewahren Erinnerung, dessen was man liebt, aber auch dessen, was fremd ist. Sieht man Klemms Gemälde der alten Grenzposten, schließen sie Tragödien ein, die durch bessere Erfahrungen überlagert sind (Abb. 11) und die unglaubliche Freude aufleben lassen, die das erste unbehinderte Durchfahren nach der Grenzöffnung auslöste.
Inzwischen sind diese Orte Geschichte, ist die deutsche Einheit als Tatsache im Bewusstsein der Menschen angekommen. Der nächste Schritt ist, ihre Werte zu bedenken, aus ihrer neu gewonnenen Existenz die richtigen Entscheidungen zu treffen. Gerade weil die Werke von Baumgärtel und Klemm zur „Deutschen Einheit“ nicht eindeutig, sondern janusköpfig bleiben, halten sie nicht nur die dem Manetwerk entnommene Lebenserfahrung fest, dem fürchterlichen Geschehen erfolgreich Einhalt zu gebieten, sondern geben auch der Möglichkeit Raum, das Geschehen mit den besten modernen Ideen weiterzuführen.

Berlin, im August 2006
Ingrid Raab

Abb. 1) Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko (Edouard Manet)
Abb. 2) Bei Ostwind I (Harald Klemm)
Abb. 3) Trabbi (Baumgärtel/Klemm)
Abb. 4) Verkündigung nach G. Schabowski (Harald Klemm)
Abb. 5) Vision mit Mauer (Markus Lüpertz)
Abb. 6) Mauer und Buchenwald - Rumpelstilzchen (Rainer Fetting)
Abb. 7) Helmut Kohl (Thomas Baumgärtel)
Abb. 8) Blühende Landschaften 2 (Baumgärtel/Klemm)
Abb. 9) Ein Deutsch Deutsches Lied, 2-3-4 (Baumgärtel/Klemm)
Abb. 10) Deutschland (Thomas Baumgärtel)
Abb. 11) Transit (Harald Klemm)

 
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